Genetik Vererbungslehre

Die Genetik, auch als Vererbungslehre, Erbkunde oder Erbbiologie bekannt, ist eines der faszinierendsten Teilgebiete der modernen Biologie. Sie erforscht, wie Merkmale von Generation zu Generation weitergegeben werden und welche molekularen Mechanismen dahinterstecken. Während die klassische Genetik sich mit den formalen Gesetzmäßigkeiten der Vererbung beschäftigt, erforscht die Molekulargenetik die Träger der genetischen Information – die Nukleinsäuren – bis ins kleinste Detail. Seit der Einführung des Begriffs „Genetik“ durch William Bateson im Jahr 1906 hat sich dieses Forschungsfeld rasant entwickelt und liefert heute grundlegende Erkenntnisse für Medizin, Landwirtschaft und Biotechnologie.

Übersicht

Was ist Genetik und warum ist sie wichtig?

Die Genetik ist die Wissenschaft von der Vererbung und bildet die Grundlage für unser Verständnis des Lebens selbst. Sie erklärt, warum Kinder ihren Eltern ähneln, wie Krankheiten vererbt werden und wie sich Lebewesen im Laufe der Evolution verändern. Mit etwa 20.000-25.000 Genen im menschlichen Genom und 3 Milliarden Basenpaaren steuert unser genetisches Material nahezu alle Lebensprozesse.

Grundlagen der Genetik: Von der Zelle zum Gen

Um die Genetik zu verstehen, müssen wir zunächst die grundlegenden Bausteine des Lebens kennenlernen. Jeder Aspekt unserer Existenz – von der Augenfarbe bis zur Anfälligkeit für bestimmte Krankheiten – ist in unserer DNA kodiert. Diese bemerkenswerte Informationsspeicherung findet auf mehreren hierarchischen Ebenen statt.

Die menschliche Zelle: Baustein des Lebens

Die unvorstellbare Zahl unserer Körperzellen

Der menschliche Körper besteht aus etwa 37,2 Billionen Zellen – eine Zahl, die das Vorstellungsvermögen übersteigt. Das sind 37.200.000.000.000 einzelne Zellen! Diese neuere Schätzung aus dem Jahr 2013 hat die frühere Annahme von 100 Billionen Zellen korrigiert. Jede dieser Zellen, mit Ausnahme der roten Blutkörperchen (Erythrozyten), enthält in ihrem Zellkern das vollständige menschliche Genom.

Genetische Information

Jede Zelle trägt den kompletten genetischen Bauplan in ihrem Kern. Diese Information ist in etwa 3,2 Milliarden Basenpaaren verschlüsselt – eine Datenmenge, die etwa 700 MB entspricht, wenn man sie digital speichern würde.

Doppelte Absicherung

Das Erbmaterial liegt zweifach vor: eine Kopie stammt von der Mutter, eine vom Vater. Dieser diploide Chromosomensatz ermöglicht genetische Vielfalt und bietet einen Sicherheitsmechanismus gegen schädliche Mutationen.

Zelluläre Vielfalt

Obwohl alle Zellen die gleiche DNA enthalten, gibt es über 200 verschiedene Zelltypen im menschlichen Körper – von Nervenzellen über Muskelzellen bis zu Immunzellen. Diese Spezialisierung erfolgt durch unterschiedliche Genexpression.

Faszinierende Tatsache: Würde man die DNA aus allen Zellen eines Menschen aneinanderreihen, würde sie eine Strecke von etwa 70 Milliarden Kilometern ergeben – das entspricht etwa 450 Mal der Entfernung von der Erde zur Sonne!

Der Zellkern: Schaltzentrale der Vererbung

Der Zellkern ist das Kommandozentrum jeder Zelle und beherbergt das gesamte Erbmaterial. Mit einem Durchmesser von etwa 5-10 Mikrometern nimmt er zwar nur einen kleinen Teil des Zellvolumens ein, ist aber für die Steuerung aller Lebensprozesse verantwortlich.

Die Organisation der Chromosomen

Im Zellkern ist die DNA, die eine Gesamtlänge von etwa 2 Metern pro Zelle hat, in 23 Chromosomenpaaren organisiert – insgesamt also 46 Chromosomen. Diese erstaunliche Verpackungsleistung entspricht der Herausforderung, 40 Kilometer Faden in einen Tennisball zu packen!

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X/Y

Die Chromosomenpaare im Detail

22 Autosomenpaare: Diese Chromosomen (Chromosom 1-22) sind bei Männern und Frauen identisch und enthalten Gene für alle Körpermerkmale außer dem Geschlecht.

1 Geschlechtschromosomenpaar: Frauen besitzen zwei X-Chromosomen (XX), Männer ein X- und ein Y-Chromosom (XY). Das Y-Chromosom ist mit etwa 59 Millionen Basenpaaren das kleinste menschliche Chromosom und enthält nur etwa 70-200 Gene.

Das Gen: Die Einheit der Vererbung

Ein Gen ist die grundlegende physikalische und funktionelle Einheit der Vererbung. Gene sind Abschnitte der DNA, die als Anleitung für die Herstellung von Proteinen oder anderen wichtigen Molekülen dienen. Das Verständnis von Genen hat sich seit den Mendelschen Gesetzen erheblich weiterentwickelt.

Klassische Definition

Ursprünglich wurde ein Gen als die kleinste, unteilbare Einheit der Erbinformation verstanden, die zur Selbstverdopplung (Autoreduplikation) fähig ist. Ein Gen bestimmt die Ausbildung eines bestimmten Merkmals.

Moderne Definition

Die Molekulargenetik definiert ein Gen als einen Abschnitt auf einem DNA-Molekül, der die genetische Information für die Bildung eines vollständigen Genprodukts – meist ein Protein oder eine RNA – enthält.

Wichtige Konzepte der Gengenetik

Das Genom

Die Gesamtheit aller Gene eines Organismus wird als Genom bezeichnet. Das menschliche Genom umfasst schätzungsweise 20.000-25.000 proteinkodierende Gene – weniger als ursprünglich vermutet.

Allele

Allele sind alternative Formen eines Gens, die am gleichen Chromosomenort (Genlocus) sitzen können. Durch Mutation entstehen neue Allele, die zu genetischer Vielfalt führen.

Genkopplung

Gene auf demselben Chromosom werden als gekoppelte Gene bezeichnet. Sie werden meist gemeinsam vererbt, können aber durch Crossing-Over während der Meiose getrennt werden.

1866: Gregor Mendel

Entdeckung der Vererbungsregeln durch Kreuzungsversuche mit Erbsen. Mendel beschrieb Gene als „Erbfaktoren“, ohne ihre chemische Natur zu kennen.

1906: William Bateson

Einführung des Begriffs „Genetik“ vom griechischen „Genesis“ (Entstehung). Bateson war einer der ersten Verfechter der Mendelschen Vererbungslehre.

1953: Watson und Crick

Aufklärung der DNA-Doppelhelixstruktur – ein Meilenstein, der das moderne Verständnis der Gene ermöglichte.

2003: Human Genome Project

Vollständige Sequenzierung des menschlichen Genoms nach 13 Jahren internationaler Forschung. Kosten: etwa 3 Milliarden US-Dollar.

Crossing-Over: Genetischer Austausch

Ein faszinierender Mechanismus der genetischen Vielfalt ist das Crossing-Over (Chromosomenüberkreuzung). Dieser Prozess findet während der Meiose statt, wenn sich Keimzellen bilden.

Der Ablauf des Crossing-Over:

  • Paarung: Homologe Chromosomen lagern sich während der Prophase I der Meiose eng aneinander (Synapsis)
  • Tetrade: Es entsteht eine Vierergruppe aus vier Chromatiden (zwei pro Chromosom)
  • Bruch und Austausch: An zufälligen Stellen brechen die Chromatiden und tauschen Segmente aus
  • Neukombination: Die reparierten Chromatiden tragen nun eine neue Kombination von Allelen

Bedeutung: Durch Crossing-Over entstehen im Durchschnitt 1-3 Austauschstellen pro Chromosomenpaar bei jeder Meiose. Dies führt zu einer nahezu unendlichen genetischen Variabilität.

Das Chromosom: Träger der Gene

Chromosomen sind hochkondensierte Strukturen im Zellkern, die aus DNA und Proteinen bestehen. Der Name stammt aus dem Griechischen: „chroma“ (Farbe) und „soma“ (Körper), da sie sich mit bestimmten Farbstoffen anfärben lassen.

Aufbau und Struktur der Chromosomen

Chromosomen bestehen hauptsächlich aus:

  • DNA: Das genetische Material, organisiert in kettenartig verbundenen Nukleotiden
  • Histone: Basische Proteine, um die sich die DNA wickelt (Nucleosomen)
  • Nichthistonproteine: Enzyme und regulatorische Proteine mit verschiedenen Funktionen

Der Chromosomenzyklus

Chromosomen durchlaufen verschiedene Kondensationszustände:

Interphase

Während der Arbeitsphase der Zelle liegt die DNA als lockeres Chromatin vor. In dieser Form sind Gene zugänglich für die Transkription. Die DNA ist als dünner Faden im Zellkern verteilt.

Prophase

Vor der Zellteilung kondensiert das Chromatin durch mehrfache Spiralisation. Die DNA wird systematisch verdichtet: zunächst um Histone gewickelt, dann zu 30-Nanometer-Fasern, später zu Chromatinfasern und schließlich zu sichtbaren Chromosomen.

Metaphase

Die Chromosomen erreichen ihre maximale Kondensation und werden unter dem Mikroskop als charakteristische X-förmige Strukturen sichtbar. Jedes besteht aus zwei identischen Chromatiden, verbunden am Centromer.

Arten von Chromosomen

Autosomen vs. Geschlechtschromosomen

Autosomen (Chromosomen 1-22): Diese 22 Chromosomenpaare sind bei beiden Geschlechtern identisch und enthalten Gene für Körpermerkmale, Stoffwechsel und Organfunktionen. Chromosom 1 ist mit etwa 249 Millionen Basenpaaren das größte, während Chromosom 21 mit etwa 47 Millionen Basenpaaren zu den kleinsten gehört.

Gonosomen (Geschlechtschromosomen): Das 23. Chromosomenpaar bestimmt das biologische Geschlecht:

  • XX: Weiblicher Karyotyp – zwei X-Chromosomen
  • XY: Männlicher Karyotyp – ein X- und ein Y-Chromosom

Chromosomenaberrationen

Veränderungen in der Chromosomenanzahl oder -struktur können zu genetischen Erkrankungen führen:

Häufige Chromosomenstörungen:

Trisomie 21 (Down-Syndrom): Drei Kopien von Chromosom 21 statt zwei. Häufigkeit: etwa 1 von 700 Geburten.

Turner-Syndrom: Fehlen eines X-Chromosoms bei Frauen (45,X). Häufigkeit: etwa 1 von 2.500 weiblichen Geburten.

Klinefelter-Syndrom: Zusätzliches X-Chromosom bei Männern (47,XXY). Häufigkeit: etwa 1 von 500-1.000 männlichen Geburten.

Die DNA: Der Code des Lebens

Die Desoxyribonukleinsäure (DNA, engl. deoxyribonucleic acid) ist das molekulare Fundament der Vererbung. Ihre einzigartige Struktur ermöglicht sowohl die stabile Speicherung als auch die präzise Weitergabe genetischer Information.

Die Doppelhelix: Ein Meisterwerk der Natur

Die DNA besteht aus zwei komplementären Einzelsträngen, die sich wie ein spiralförmiger Reißverschluss umeinander winden. Diese von Watson und Crick 1953 entdeckte Struktur erklärt die Mechanismen der Replikation und Vererbung.

A ↔ T
T ↔ A
G ↔ C
C ↔ G

Die vier Bausteine der DNA

Die genetische Information ist durch die Abfolge (Sequenz) von vier verschiedenen Nukleobasen kodiert:

Adenin (A)

Eine Purinbase mit einer Doppelringstruktur. Adenin paart sich immer mit Thymin über zwei Wasserstoffbrücken. In der DNA ist Adenin besonders wichtig für die Stabilität der Doppelhelix.

Thymin (T)

Eine Pyrimidinbase mit einem Einzelring. Thymin ist die komplementäre Base zu Adenin. In RNA wird Thymin durch Uracil ersetzt, was einen wichtigen Unterschied zwischen DNA und RNA darstellt.

Guanin (G)

Eine weitere Purinbase. Guanin bildet mit Cytosin drei Wasserstoffbrücken, was diese Basenpaarung stabiler macht als die A-T-Paarung. GC-reiche DNA-Abschnitte sind hitzebeständiger.

Cytosin (C)

Eine Pyrimidinbase, die mit Guanin paart. Die GC-Paarung ist aufgrund der drei Wasserstoffbrücken energetisch stabiler und benötigt mehr Energie zum Aufbrechen.

Das Basenpaarungsprinzip

Chargaff-Regeln (1950):

Der Biochemiker Erwin Chargaff entdeckte wichtige Gesetzmäßigkeiten der DNA-Zusammensetzung:

  • Die Menge an Adenin entspricht immer der Menge an Thymin (A = T)
  • Die Menge an Guanin entspricht immer der Menge an Cytosin (G = C)
  • Die Summe der Purinbasen entspricht der Summe der Pyrimidinbasen
  • Das Verhältnis (A+T) zu (G+C) variiert zwischen verschiedenen Arten

Bedeutung: Diese Regeln waren entscheidend für Watson und Crick bei der Aufklärung der DNA-Struktur und beweisen die komplementäre Basenpaarung.

DNA-Replikation: Verdopplung der Erbinformation

Vor jeder Zellteilung muss die DNA exakt verdoppelt werden. Dieser Prozess erfolgt semikonservativ: Jeder neue DNA-Doppelstrang besteht aus einem alten (konservierten) und einem neu synthetisierten Einzelstrang.

Schritte der DNA-Replikation:

  1. Entwindung: Das Enzym Helicase trennt die beiden DNA-Stränge
  2. Stabilisierung: Einzelstrang-Bindeproteine verhindern das Zurückfalten
  3. Synthese: DNA-Polymerase fügt komplementäre Nukleotide hinzu (Geschwindigkeit: ca. 50 Nukleotide/Sekunde beim Menschen)
  4. Korrektur: Fehlerhafte Basen werden erkannt und ausgetauscht (Fehlerrate: nur 1 pro 10 Milliarden Basen)
  5. Verbindung: DNA-Ligase verknüpft die DNA-Fragmente zu einem kontinuierlichen Strang
Erstaunliche Präzision: Bei jedem Kopiervorgang werden 3,2 Milliarden Basenpaare fehlerfrei verdoppelt – das entspricht dem Abschreiben von etwa 1.000 Büchern mit jeweils 300 Seiten praktisch ohne Fehler!

Von der DNA zum Merkmal

Die DNA speichert nicht nur Information, sondern steuert auch deren Umsetzung in beobachtbare Merkmale durch zwei grundlegende Prozesse:

Transkription

Die Umschreibung der DNA-Information in RNA (Ribonukleinsäure). Ein Gen wird von der DNA in eine messenger-RNA (mRNA) übersetzt, die als Botenmolekül dient. Im Menschen werden täglich Millionen von RNA-Molekülen hergestellt.

Translation

Die Übersetzung der RNA-Botschaft in eine Aminosäurekette (Protein). An den Ribosomen wird die genetische Information in die Sprache der Proteine übersetzt – der eigentlichen „Arbeitsmoleküle“ des Lebens.

Proteine: Die Arbeitsmoleküle des Lebens

Proteine sind die funktionellen Endprodukte der genetischen Information. Sie sind an praktisch allen Lebensprozessen beteiligt und machen etwa 15-20% der Körpermasse aus. Der menschliche Körper produziert schätzungsweise 80.000-400.000 verschiedene Proteine.

Aminosäuren: Die Bausteine der Proteine

Proteine bestehen aus Ketten von Aminosäuren, die wie Perlen aneinandergereiht sind. Es gibt 20 verschiedene proteinogene (proteinbildende) Aminosäuren, aus denen alle menschlichen Proteine aufgebaut werden:

  • 9 essentielle Aminosäuren: Müssen mit der Nahrung aufgenommen werden (Histidin, Isoleucin, Leucin, Lysin, Methionin, Phenylalanin, Threonin, Tryptophan, Valin)
  • 11 nicht-essentielle Aminosäuren: Können vom Körper selbst synthetisiert werden

Die vier Strukturebenen von Proteinen

Primärstruktur

Die Aminosäuresequenz – die genaue Reihenfolge der Aminosäuren in der Kette. Diese Sequenz wird direkt durch die DNA-Sequenz des entsprechenden Gens bestimmt.

Sekundärstruktur

Lokale räumliche Anordnungen durch Wasserstoffbrücken: Alpha-Helices (spiralförmig) und Beta-Faltblätter (zickzackförmig gefaltete Bereiche).

Tertiärstruktur

Die dreidimensionale Gesamtform des Proteins durch Wechselwirkungen zwischen weit entfernten Aminosäuren. Diese Struktur ist entscheidend für die Funktion.

Quartärstruktur

Die Anordnung mehrerer Proteinketten zu einem funktionellen Komplex. Beispiel: Hämoglobin besteht aus vier Untereinheiten.

Funktionen von Proteinen

Proteine übernehmen im Körper vielfältige Aufgaben:

Strukturproteine

Kollagen (häufigstes Protein im Körper, 25-30% aller Proteine), Keratin (Haare, Nägel), Elastin (elastisches Gewebe). Sie bilden das Grundgerüst von Geweben und Organen.

Enzyme

Biologische Katalysatoren, die chemische Reaktionen beschleunigen. Der Mensch besitzt etwa 75.000 verschiedene Enzyme. Sie können Reaktionsgeschwindigkeiten um den Faktor 10⁸ bis 10²³ erhöhen!

Transportproteine

Hämoglobin transportiert Sauerstoff im Blut (jedes Hämoglobinmolekül kann 4 Sauerstoffmoleküle binden). Transferrin transportiert Eisen, Albumin transportiert Fettsäuren und Hormone.

Immunproteine

Antikörper (Immunglobuline) erkennen und neutralisieren Krankheitserreger. Das Immunsystem kann theoretisch über 100 Millionen verschiedene Antikörper produzieren!

Hormone

Insulin (Blutzuckerregulation), Wachstumshormon, Glucagon – diese Proteine steuern als chemische Botenstoffe lebenswichtige Prozesse.

Motorproteine

Myosin und Aktin ermöglichen Muskelkontraktion. Kinesin und Dynein transportieren Fracht innerhalb der Zelle entlang von Mikrotubuli.

Der genetische Code: Von DNA zu Protein

Das Codon-System

Die genetische Information wird in Tripletts (Dreiergruppen) von Basen gelesen, die als Codons bezeichnet werden. Jedes Codon kodiert für eine bestimmte Aminosäure oder ein Stoppsignal:

  • 64 mögliche Codons (4³ = 4×4×4 Kombinationen aus A, T, G, C)
  • 61 kodierende Codons für die 20 Aminosäuren
  • 3 Stopp-Codons (UAA, UAG, UGA) markieren das Ende eines Gens
  • 1 Start-Codon (AUG) kodiert für Methionin und markiert den Beginn

Degeneration des Codes: Die meisten Aminosäuren werden durch mehrere verschiedene Codons kodiert. Dies bietet einen Puffer gegen Mutationen – viele Basenaustausche ändern die Aminosäuresequenz nicht.

Form bestimmt Funktion

Die dreidimensionale Form eines Proteins ist entscheidend für seine Funktion. Diese Form wird durch die Aminosäuresequenz bestimmt, die wiederum direkt aus der DNA-Sequenz abgeleitet wird. Eine einzige falsche Aminosäure kann die Proteinstruktur dramatisch verändern:

Beispiel Sichelzellenanämie: Ein einziger Basenaustausch (Punktmutation) im Hämoglobin-Gen führt zum Austausch einer Aminosäure (Glutaminsäure → Valin). Dies verändert die Form des Hämoglobins und lässt die roten Blutkörperchen sichelförmig werden, was zu schweren gesundheitlichen Problemen führt.

Moderne Anwendungen der Genetik

Die Erkenntnisse der Genetik haben in den letzten Jahrzehnten zu bahnbrechenden Entwicklungen geführt, die unser Leben tiefgreifend beeinflussen.

Personalisierte Medizin

Durch Genomsequenzierung können individuelle Krankheitsrisiken bestimmt und Therapien angepasst werden. Kosten für eine vollständige Genomsequenzierung: heute unter 1.000 € (2001 noch 100 Millionen €).

CRISPR-Cas9

Die revolutionäre Gen-Editing-Technologie ermöglicht präzise Veränderungen der DNA. Potenzielle Anwendungen: Behandlung von Erbkrankheiten, Krebstherapie, Landwirtschaft.

Pharmakogenetik

Die Anpassung von Medikamentendosierungen an das individuelle Erbgut. Bis zu 95% der Menschen haben genetische Varianten, die beeinflussen, wie sie auf Medikamente reagieren.

Pränatale Diagnostik

Nicht-invasive Tests können aus mütterlichem Blut fetale DNA analysieren und Chromosomenanomalien mit über 99% Genauigkeit erkennen – ohne Risiko für das Baby.

Genetische Vielfalt: Obwohl sich die DNA zweier Menschen zu 99,9% gleicht, macht die verbleibende Differenz von 0,1% etwa 3 Millionen Unterschiede in den Basenpaaren aus – genug, um jeden Menschen einzigartig zu machen!

Zusammenfassung: Die Hierarchie der genetischen Information

Die Genetik zeigt uns eine faszinierende Hierarchie der biologischen Organisation:

Von der Basis zur Komplexität

  1. Nukleotide → bilden die DNA
  2. DNA → organisiert in Genen
  3. Gene → angeordnet auf Chromosomen
  4. Chromosomen → verpackt im Zellkern
  5. Zellkern → Kommandozentrale der Zelle
  6. Zellen → Bausteine von Geweben und Organen
  7. Organismen → komplexe Lebewesen mit einzigartigen Merkmalen

Die Genetik hat sich von den einfachen Beobachtungen Mendels zu einer hochkomplexen Wissenschaft entwickelt, die uns ermöglicht, das Leben auf molekularer Ebene zu verstehen und zu beeinflussen. Mit neuen Technologien wie der Einzelzell-Genomik, der synthetischen Biologie und dem maschinellen Lernen zur Vorhersage von Genregulation steht die Genetik erst am Anfang ihrer Möglichkeiten. Die Humangenetik, als spezialisiertes Teilgebiet, wendet diese Erkenntnisse direkt auf den Menschen an und trägt zu medizinischen Durchbrüchen bei, die vor wenigen Jahrzehnten noch undenkbar waren.

Was ist der Unterschied zwischen DNA und RNA?

DNA (Desoxyribonukleinsäure) ist die Speicherform der genetischen Information und liegt als Doppelstrang vor. RNA (Ribonukleinsäure) ist meist einzelsträngig und dient als Botenmolekül. Die wichtigsten Unterschiede: DNA enthält die Base Thymin, RNA enthält stattdessen Uracil. DNA enthält den Zucker Desoxyribose, RNA Ribose. DNA ist stabiler und für langfristige Speicherung geeignet, während RNA kurzlebiger ist und für die Proteinsynthese benötigt wird. Im Menschen gibt es verschiedene RNA-Typen: mRNA (Boten-RNA), tRNA (Transfer-RNA) und rRNA (ribosomale RNA).

Wie viele Gene hat der Mensch tatsächlich?

Das menschliche Genom enthält schätzungsweise 20.000 bis 25.000 proteinkodierende Gene – deutlich weniger als ursprünglich vermutet. Vor dem Human Genome Project ging man von 80.000 bis 100.000 Genen aus. Interessanterweise haben wir nicht viel mehr Gene als einfachere Organismen: Die Fruchtfliege hat etwa 14.000 Gene, der Fadenwurm C. elegans etwa 20.000. Die Komplexität des Menschen entsteht durch alternatives Spleißen, bei dem ein Gen mehrere verschiedene Proteine kodieren kann, sowie durch komplexe Genregulation. Tatsächlich kodieren nur etwa 1,5% unserer DNA für Proteine – der Rest hat regulatorische Funktionen oder ist noch nicht vollständig verstanden.

Was passiert bei einer Mutation und sind alle Mutationen schädlich?

Eine Mutation ist eine dauerhafte Veränderung der DNA-Sequenz. Es gibt verschiedene Arten: Punktmutationen (Austausch einzelner Basen), Insertionen (Einfügungen), Deletionen (Verluste) und Chromosomenmutationen (größere Veränderungen). Nicht alle Mutationen sind schädlich – viele sind neutral oder sogar vorteilhaft. Etwa 99% der Mutationen haben keine Auswirkung, da sie in nicht-kodierenden Bereichen liegen oder aufgrund der Degeneration des genetischen Codes keine Aminosäureänderung bewirken. Mutationen sind die Grundlage der Evolution und genetischen Vielfalt. Jeder Mensch wird mit etwa 60-100 neuen Mutationen geboren, die weder Mutter noch Vater haben. Schädliche Mutationen können zu Erbkrankheiten führen, aber auch zur Krebsentstehung beitragen.

Warum haben wir zwei Kopien jedes Gens?

Menschen sind diploid – wir haben zwei Kopien (Allele) jedes Gens, eine von jedem Elternteil. Dies bietet mehrere Vorteile: Erstens eine Sicherheitskopie, falls ein Allel durch Mutation defekt ist (rezessive Vererbung). Zweitens ermöglicht es genetische Vielfalt durch die Kombination väterlicher und mütterlicher Eigenschaften. Drittens erlaubt es Heterozygotie – wenn beide Allele unterschiedlich sind, können manchmal beide Merkmale exprimiert werden oder ein Vorteil entstehen (wie beim Sichelzellenmerkmal, das gewissen Malaria-Schutz bietet). Bei dominanter Vererbung reicht bereits ein funktionsfähiges Allel für ein normales Merkmal aus. Bei rezessiver Vererbung müssen beide Allele defekt sein, damit eine Erkrankung auftritt. Nur die Keimzellen (Ei- und Samenzellen) sind haploid und enthalten nur eine Kopie jedes Chromosoms.

Wie wird das Geschlecht genetisch bestimmt?

Das biologische Geschlecht wird beim Menschen durch das 23. Chromosomenpaar bestimmt – die Geschlechtschromosomen X und Y. Frauen haben zwei X-Chromosomen (XX), Männer haben ein X- und ein Y-Chromosom (XY). Das Y-Chromosom ist entscheidend für die männliche Entwicklung und enthält das SRY-Gen (Sex-determining Region Y), das die Entwicklung männlicher Geschlechtsmerkmale steuert. Da die Mutter immer ein X-Chromosom weitergibt, bestimmt das Spermium des Vaters das Geschlecht: X-Spermium = Tochter, Y-Spermium = Sohn. Das X-Chromosom ist mit etwa 155 Millionen Basenpaaren und über 800 Genen viel größer als das Y-Chromosom mit nur 59 Millionen Basenpaaren und 70-200 Genen. Interessanterweise sind viele X-chromosomale Erbkrankheiten (wie Farbenblindheit oder Hämophilie) bei Männern häufiger, da sie keine zweite Kopie als ‚Backup‘ haben.

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